Anarch, Solitär, Reaktionär

von Volkmar Wölk
Magazin "der rechte rand" Ausgabe 163 - November 2016

Zu den literarischen Standardwerken auf die sich die »Identitäre Bewegung« stützt, gehört neben Renaud Camus‘ »Le grand remplacement« – immerhin namensgebend für ihre Kampagne gegen den »Großen Austausch« – der dystopische Roman »Le Camp des saints« (»Das Heerlager der Heiligen«) von Jean Raspail.

Es gibt Menschen, die man sich unwillkürlich sofort im Hausmantel vorstellt. Natürlich mit einem sorgsam gefalteten Tuch in der Brusttasche. Menschen – nein: Männer natürlich –, die aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. Menschen, die sich in ihrer eigenen Welt bewegen, die sich dem Geschwindigkeitsrausch und der Technik der Moderne entzieht. Natürlich gehört eine aufrechte Haltung zu ihnen, unverrückbare Überzeugungen, die unbedingt und konsequent vertreten werden und deren heroischer Charakter es geradezu erfordert, dass sie sich außerhalb der Zeit – bei den ewigen Wahrheiten – verorten und als Einzelgänger in der und gegen die Gesellschaft wirken. Sie funkeln in ihrer Umgebung wie ein Solitär, sie verkörpern den Widerstand wie Ernst Jüngers Typus des Anarchen. Kurz: sie sind nur als Reaktionär vorstellbar. Ein solcher Mensch ist der 1925 geborene französische Schriftsteller Jean Raspail, dessen 1973 erschienenes Hauptwerk »Das Heerlager der Heiligen« gegenwärtig einen späten, jedoch nicht unerwarteten Erfolg in Deutschland feiert. Rund drei Dutzend Bücher hat der Autor seit 1952 veröffentlicht, literarische Auszeichnungen und Ehrungen geradezu gesammelt. Bereits 1981 erhielt er den renommierten »Grand Prix du Roman« der Académie française und damit so etwas wie den literarischen Ritterschlag.

Dabei ist seine Herkunft ganz und gar nicht aristokratisch. Nein, Raspail entstammt dem Bürgertum, noch dazu dem Besitzbürgertum, der Bourgeoisie. Sein Vater Octave gehörte zur industriellen Elite des Landes. Das ermöglichte das Schreiben fernab materieller Sorgen, es schuf die Voraussetzungen für zahllose Reisen, für Muße und Abenteurertum. Zum Beispiel für sein Schlüsselerlebnis, eine Reise im Kanu über 4.500 Kilometer quer durch die ehedem französischen Besitzungen in Nordamerika, von Québec bis New Orléans. Die Bourgeoisie hat zwar ihre Vorteile, doch haftet ihr etwas Anrüchiges an. Was tut jemand, der aus einer Familie der Händler entstammt, sich aber zum Helden berufen fühlt? Er positioniert sich so deutlich wie möglich fern von der bürgerlichen Ideologie per se, dem Liberalismus. Das ist möglich als Katholik, das ist möglich als Monarchist. Raspail verknüpft beides. Raspail sieht nur ein Gegengift gegen die Moderne: die Tradition. Für ihn ist es nicht fünf vor zwölf, sondern fünf nach zwölf. Die Uhr muss zurückgedreht werden. Von entschlossenen Männern, welche die Not wenden, von Reaktionären, die dem Urteil des »Konservativen Revolutionärs« Hans Freyer zustimmen, der das »Schicksal der Nivellierung und Homogenisierung durch den Kapitalismus« als reale Gefahr beschreibt. Die die Kritik am Wirtschaftsliberalismus als Bindeglied zwischen echten Rechten und echten Linken sehen. Die das Urteil des Burschenschafters, Jungverlegers und Kopfs der neu-rechten Initiative »Ein Prozent«, Philip Stein, teilen, dass »jeder gesellschaftlichen Veränderung eine ernsthafte metapolitische Arbeit vorausgehen muss«. Die mit Genugtuung registrieren, dass in den vergangenen Jahren in der LeserInnenschaft das Interesse an den AutorInnen der »Konservativen Revolution« wieder gestiegen sei und die Suche »nach querliegenden gesellschaftlichen Entwürfen jenseits des Begriffspaares ‹Links – Rechts›« virulent geworden sei.

Deshalb veröffentlicht Philip Stein in seinem Verlag »Jungeuropa« als erstes Buch das Hauptwerk des französischen Schriftstellers Pierre Drieu La Rochelle, »Die Unzulänglichen«, einen faschistischen Entwicklungsroman, deshalb haben sich der neu-rechte Verleger Götz Kubitschek und sein österreichischer Mitstreiter Martin Lichtmesz als Übersetzer an eine Neuausgabe von Raspails »Das Heerlager der Heiligen« gemacht. Eine erste Ausgabe war 1985 in einer verstümmelten Version und schlechter Übersetzung im Tübinger Hohenrain-Verlag erschienen. Erfolg war dem Werk damals nicht beschieden. Die erste »Flüchtlingswelle«, die damals zum Erstarken der »Republikaner«, einer nie gekannten Anschlagsserie und schließlich der faktischen Abschaffung des Asylrechts durch eine ganz große Koalition führte, schickte nur ihre ersten sanften Ausläufer voraus. Und auch später fehlte es der extremen Rechten am strategischen Geschick, literarische Werke in ihre politische Arbeit einzubauen. Damals war folgerichtig der Band ein Flop, heute bescheinigt die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) in einer Besprechung: »Das Heerlager der Heiligen dürfte ein Kultbuch werden.«

Worum geht es in dem Band, der bereits heute das Interesse an Raspail in Deutschland so sehr hat anwachsen lassen, dass weitere Bände in Übersetzung publiziert wurden (»Der Ring des Fischers«, »Sieben Reiter verließen die Stadt«)? Die »Armada der letzten Chance« ist aufgebrochen. Ausgangspunkt ist der indische Subkontinent, Ziel – erwartungsgemäß – Europa. An Bord der Flotte: eine Million dem Verhungern nahe Menschen. Es handelt sich lediglich um eine Vorhut, die – so der Verlag – »Vorhut weiterer unzähliger Massen aus der Dritten Welt, die denselben Weg aus dem Elend wählen werden.« Und Kubitschek/Lichtmesz beschwören weiter die Aktualität der Dystopie Raspails: »Das realitätsblind gewordene Abendland reagiert auf diese drohende, waffenlose Invasion mit einem utopisch-humanitären Taumel, der letztlich seinen Untergang zur Folge hat: innerlich zerfressen von Selbstverachtung, schlechtem Gewissen und schwindendem Selbstbehauptungswillen ist der europäische Kontinent nicht mehr imstande, das Eigene zu verteidigen.«

Die immer noch kleine Schar deutscher Neu-Rechter hat Jean Raspail selbst erst vor wenigen Jahren entdeckt. Ausgangspunkt war das durch eine Fanalzündung entflammte Interesse an den französischen »Identitären«, welche die Metapolitik der »Nouvelle Droite« mit nationalrevolutionären Strategien und situationistischen Ansätzen verknüpft hatten. Die Besetzung der im Bau befindlichen Moschee von Poitiers hatte geradezu einen Medienhype um diese Miniatur-Bewegung entfacht. Kubitschek und Lichtmesz reisten zu einem Kongress der »Identitären« nach Orange, waren fasziniert und lernten bei dieser Gelegenheit neben wichtigen politischen AkteurInnen der Strömung in Frankreich gleichzeitig auch Autoren wie Renaud Camus (inzwischen ebenfalls bei »Antaios« verlegt) oder eben Jean Raspail kennen.
Jenen Raspail, der doch mit der konservativen, bourgeoisen Rechten nichts zu schaffen haben mag, der angesichts des Rechtsschwenks in der französischen Gesellschaft im greisen Alter jedoch zur Kultfigur mutiert. Ihm öffnen sich die Massenblätter, wie das an jedem Kiosk erhältliche Wochenmagazin »Valeurs actuelles«(«Aktuelle Werte«) ebenso wie die Theorieorgane der extremen Rechten, zum Beispiel die »Éléments« der französischen Nouvelle Droite. Als »Don Quichotte eines Königtums ohne Krone« wird er in den »Valeurs actuelles« vorgestellt, als »Paladin angeblich verlorener Schlachten, als Ritter, der einem zeitlosen Herrschaftsanspruch dient, als Vertreter vergessener oder geopferter Völker«. Jenen Raspail, der seinen neu-rechten Interviewern der »Éléments« bei deren erstem Besuch im Winter 1974 als erstes seinen konträren Standpunkt in einem zentralen Thema entgegenschleuderte: »Ich bin heidnisch-christlich. Man kann doch gar nichts besseres finden als den Katholizismus, wenn man das Beste des Heidentums bewahren will, nicht wahr?«. Jenen Raspail, der heute seinen Gesprächspartnern von den »Éléments« versichert, das Abenteurertum gehöre untrennbar zu einem »Ultra-Reaktionär«, wie er selbst es sei.

Es ist davon auszugehen, dass jener Autor, der im April 2016 im Feuilleton der FAZ ein Porträt des gerade in Deutschland wiederentdeckten Jean Raspail zeichnete, die oben benannten Interviews genau zu Kenntnis genommen hat. Er stellt ihn vor als Schriftsteller »aus der kleinen, aber ehrbaren Familie des Don Quijote«, der »zeitlebens parteilos, die Niederungen der Politik ebenso wie die Masse, die er verabscheut« gemieden habe. Mit unverhohlener Sympathie porträtiert er einen Autor, der »den Willen zur Zerstörung des Heiligen« beklagt. Raspail, der Verächter der Bourgeoisie, bringt ausgerechnet den LeserInnen des Leitmediums der Bourgeoisie die zentralen Gedanken seines »Heerlagers der Heiligen« mittels des devoten FAZ-Autors Konrad Weiß nahe: »Eine Million bettelarmer, aber entschlossener Boatpeople fällt als Vorhut der Dritten Welt gewaltlos in Frankreich ein, das ein Trommelfeuer der Indoktrination durch faktisch gleichgeschaltete Medien und politische Eliten zu jeglichem Widerstand und Selbstbehauptungswillen unfähig gemacht hat. Heute spricht man von ‹Willkommenskultur› – und Raspail von der ‹altruistischen Idiotie, die Millionen deutscher Schwachköpfe, pardon, ‹Aber ja! Nur immer herein!› ausrufen lässt.›«

Dabei, so Raspail, hätte Deutschland von Frankreich lernen können, denn dieses befinde sich nunmehr schon seit Jahrzehnten in einem verheerenden kulturellen Wandel, es sei »reif für den finalen Schlag«. Es habe »eine schleichende Kolonisation begonnen, sie macht in manchen Banlieues achtzig Prozent aus und bewirkt bereits eine Segregation durch Rückzug. Irgendwann wird man nicht mehr ausweichen können, eine Art Bürgerkrieg ist unausweichlich«. Raspail teilt an dieser Stelle ausdrücklich die Analysen anderer neu-rechter Referenzautoren wie Guillaume Faye (»Die Kolonisation Europas«) oder Eric Werner (»Der Vor-Bürgerkrieg«). Die literarische Dystopie wird zur Ausmalung der politischen Analyse und Raspail wird zum Teil eines Diskursbündels, dessen zentrales Thema ein waidwundes Europa ist, das kurz vor dem Todesstoß durch die Massenmigration steht.

Ermöglicht wird dies alles durch angebliche Dekadenz der EuropäerInnen, die sämtliche heroischen Werte und damit die Fähigkeit zur effizienten Gegenwehr längst verloren hätten. Und so wie der Held der »Unzulänglichen« von Drieu La Rochelle am Ende des Romans zu Kämpfertum findet, auf der Seite der GegnerInnen der republikanischen Regierung in den Spanischen Bürgerkrieg zieht, so ist es für die gesamte nationalrevolutionär orientierte Neue- Rechte eine ausgemachte Sache, dass dem drohenden »Untergang des Abendlandes« nur durch die europäische Wiedergewinnung des Widerstandsgeistes und -ethos Einhalt geboten werden kann. Eine Haltung, die die FAZ auch Raspail zuschreibt: »Raspails Romanfiguren haben samt und sonders keine Hoffnung, aber eine zugleich selbstvergessene und unbeugsame Attitüde des Trotzdem.« Jene Selbstverständlichkeit des Sterbens für eine Sache, »wie das Gesetz es befahl«, nach dem Vorbild der Spartaner bei der Schlacht bei den Thermopylen gegen die übermächtigen Perser.

Jean Raspail selbst bevorzugt eine andere historische Analogie, die allerdings nicht weniger mythenumwabert ist. Für ihn bietet das Kriegerethos der japanischen Samurai das bevorzugte Vorbild. Und so klingt es wie aus dem Hollywood-Schinken »Der letzte Samurai« entnommen, wenn der steinalte Mann seinem jungen Besucher verkündet: »Wenn man eine (fast) verlorene Sache vertritt, muss man ins Horn stoßen, aufs Pferd springen und einen letzten Ausfall wagen.« Der ist begeistert, nimmt das Zitat als Abspann für seinen FAZ-Artikel – und führt diesen nur wenig später in einer Variante in der neu-rechten »Sezession« weiter.

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