Aufklärung?

von Sven Ullenbruch, von Robert Andreasch , von Svenna Berger und Sven Kames, von Andreas Speit, von Sarah Müller (NSU-Watch Hessen), von »Mord verjährt nicht!« (Rostock), von Kim Müller, von Kerstin Köditz, von Arnd Graf, von Katharina König

Magazin "der rechte rand" - Ausgabe 162 - September 2016

#NSUKomplex

NSU-Aufklärung und der Umgang mit rechtem Terror in den Bundesländern – ein Überblick.

Mindestens in zehn Bundesländern gab es einen direkten Bezug zum »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU), zu seinen Morden, zu seinen Anschlägen und Überfällen sowie zu seinem Unterstützungsnetzwerk in der Neonazi-Szene. Während einige Länder seit der Selbstenttarnung des rechten Terrornetzwerks intensiv an der Aufkla?rung arbeiten oder vor Ort der Opfer der rassistischen Mord- und Anschlagsserie gedenken, gibt es in anderen Ländern offenbar kaum ein Interesse, Hintergründe aufzudecken, rassistische Gewalt zu thematisieren und mögliche Konsequenzen zu ziehen. Zuletzt richtete der Brandenburger Landtag – endlich nach fünf Jahren Kenntnis über den NSU und die fatale Rolle eines Brandenburger Spitzels in der gewalttätigen Neonazi-Szene – einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss (UA) ein, um mögliche Fehler und Verstrickungen der Sicherheitsbehörden und die Entstehung rechter Terrorstrukturen in dem Bundesland zu untersuchen.

Baden-Württemberg: Zweite Runde für die Aufklärung
von Sven Ullenbruch
Es ist eine lange Liste: Über 100 Personen, 25 Bands, mehr als 20 Organisationen, sechs Firmen und Rockergruppen, sieben Szenetreffs und neun Veranstaltungen zählte der erste NSU-Untersuchungsausschuss in Stuttgart in einer internen Auswertung zu möglichen Bezügen der Terrorgruppe nach Baden-Württemberg auf. Weil den ParlamentarierInnen die Zeit davonlief, befasst sich ab September 2016 nun ein zweiter Ausschuss mit dem Thema. Dabei wird die Frage, wer am 25. April 2007 in Heilbronn die Polizistin Michèle Kiesewetter erschoss und ihren Kollegen schwer verletzte, nicht mehr im Mittelpunkt stehen. Für den Landtag ist klar: Die NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hielten auf der Theresienwiese die Waffen in der Hand. Der Anschlag soll sich gegen die Polizei als verhasste Institution gerichtet haben.
Damit folgen die Abgeordneten einer Indizienkette, die von der Bundesanwaltschaft vor dem Münchner Oberlandesgericht vertreten wird. Zwar erscheint es sonderbar, dass eine im thüringischen Quellgebiet des NSU aufgewachsene Polizistin hunderte Kilometer entfernt »Zufallsopfer« der aus Thüringen stammenden Neonazis geworden sein soll. Allerdings konnten bisher auch unabhängige Recherchen die staatliche Tatversion kaum erschüttern. Trotzdem könnte sich das Drängeln des ersten Ausschusses noch rächen: Die Abgeordneten versuchten, sich in wenigen Monaten durch umfangreiches und komplexes Aktenmaterial zu wühlen. Am Ende schlossen sie zwar Mittäter in Heilbronn nicht vollkommen aus. Sie bemühten sich aber, die Aussagen glaubwürdiger ZeugInnen, die in Tatortnähe mehrere zum Teil blutverschmierte Personen beobachteten, vom Tisch zu fegen. Auch mit fragwürdigen Mitteln wie einer Tatortbegehung, die einer Inszenierung ähnelte.
Dabei drängt sich gerade im Südwesten die Frage nach möglichen HelferInnen des NSU auf. Bis 2001 hielten sich Mundlos, Böhnhardt und Beate Zschäpe regelmäßig in Ludwigsburg auf. Dass es sich bei den dortigen party- und alkoholaffinen Szenebekanntschaften um die einzigen AnsprechpartnerInnen der Untergetauchten im Süden handelte, gilt als unwahrscheinlich. In der Region existiert ein Netz ehemaliger Kader von »Blood & Honour« (B&H) mit vielfältigen Verflechtungen nach Sachsen. Enge Bande bestehen auch zwischen der Heilbronner Neonazi-Szene und Gleichgesinnten in Jena. Den Marbacher Neonazi Jug P. verdächtigt das Bundeskriminalamt (BKA), an Waffenlieferungen an das Trio aus der Schweiz beteiligt gewesen zu sein. Mit mindestens zwei schwäbischen Ablegern des »Ku-Klux-Klans« (KKK), in denen auch V-Leute des Verfassungsschutzes aktiv waren, hat sich der erste Ausschuss zwar befasst. Deren Bedeutung für die Szene konnte das Gremium aber nicht klären. Auch weil sich die Abgeordneten vom Geheimdienst vorführen ließen – mit zurückgehaltenen Akten und wortkargen ZeugInnenauftritten.

Bayern: War da was?
von Robert Andreasch
Am Oberlandesgericht der Landeshauptstadt München geht der NSU-Prozess ins vierte Jahr. Eine parlamentarische Aufarbeitung des NSU-Komplexes findet in Bayern jedoch nicht statt. Die Neonazis des NSU ermordeten mindestens fünf Menschen in Bayern. Warum begann der NSU seine Anschlagsserie und seine Mordserie jeweils in Bayern? Wieso dominierte in den mit der Mordserie befassten, bayerischen Polizeigremien (Sonderkommissionen »Halbmond« und »Bosporus«) ein institutioneller Rassismus?
Von Juli 2012 bis Juli 2013 befasste sich ein UA des bayerischen Landtags (»Rechtsterrorismus in Bayern – NSU«) mit dem Skandal. Das Ausschussgesetz schrieb vor, den vollständigen Fragenkatalog bereits vor dem Ausschussbeginn zu beschließen. Das damalige Wissen über den NSU war jedoch noch gering und die antifaschistische Recherche zu dessen bayerischen Netzwerken erst angelaufen. Die Zeit bis zum Ende der Legislaturperiode war viel zu knapp. Ganztägige Ausschusssitzungen wie im Bundestag oder wie im Thüringer Landtag gab es nicht. Fast alle Sitzungen waren zeitweise nichtöffentlich, mehrfach wurden Teile gar als geheim eingestuft. Zwei eifrige Vertreter des Innenministeriums wachten bei ZeugInnenaussagen und Diskussionen akribisch über eingeschränkte Aussagegenehmigungen und Geheimhaltungsvorschriften. Nach kurzer Zeit kamen so gut wie keine JournalistInnen mehr.
SPD und »Die Grünen« hatten außerdem nicht ihre ExpertInnen zur »extremen Rechten« in den Ausschuss geschickt. Sie hakten selten nach, wenn die Verantwortlichen wieder einmal jede Schuld von sich wiesen oder sich mit Erinnerungslücken retteten. Von der »Operation Rennsteig« der Verfassungsschutzämter – unter maßgeblicher Beteiligung des Bayerischen Amtes – wollten beispielsweise viele ZeugInnen nichts mehr wissen. Und die vermeintlich kritischste Frage der SPD an den Innenminister Joachim Hermann (CSU) war die nach einer möglicherweise zu geringen Einstellungsquote von MigrantInnen bei Polizei und Verfassungsschutz. Zum V-Leute-Einsatz des bayerischen Inlandsgeheimdienstes wurde lediglich der Fall Kai Dalek behandelt. Der V-Mann vernetzte die Szene bundesweit elektronisch (»Thule-Netz«), initiierte Zeitschriftenprojekte und Organisationen in Nordbayern und Thüringen. Mit seiner Fokussierung auf Anti-Antifa-Arbeit prägte er die süddeutsche Neonazi-Szene. ­Einem eventuellen Wissen des bayerischen Verfassungsschutzes über die Existenz des NSU vor November 2011 wurde nicht nachgegangen. Der Zwickauer V-Mann Ralf Marschner, in dessen Firma es Autofahrten gab, die zu den Tattagen der Morde in Nürnberg und München korrespondieren, war damals noch kein Thema.
Am Ende der Ausschuss-Arbeit erschien ein halbwegs brauchbarer Abschlussbericht. Er enthält die Forderung nach einer Kommission, die künftig die Umsetzung der Empfehlungen des Ausschusses überprüft. Ihre Einsetzung wird seitdem jedoch durch die mit absoluter Mehrheit regierende CSU verhindert. Das Verhalten der Opposition ist ähnlich ärgerlich: Bis heute – zweieinhalb Jahre nach Beginn der aktuellen Legislaturperiode – hat im Landtag niemand einen zweiten UA gefordert.

Hamburg: Aussagen ohne Folgen
von Andreas Speit
»Er wollte noch was sagen, aber er konnte nicht mehr.« Im Saal A 101 des Münchener Oberlandesgerichts klangen am 22. September 2013 die Sätze von Ali Ta?köprü nach. Langsam sprach der Vater über die Ermordung seines Sohnes Süleyman in Hamburg. Auf Nachfrage des Vorsitzenden Richter Manfred Götzl, »Sie haben doch zwei Männer gesehen?«, wiederholte er erst seine Aussage, die er wenige Stunden nach dem Mord am 27. Juni 2001 bei der Polizei machte: »Ja, ich wusste nicht, ob das Passanten oder Kunden waren«, sagte er und beschrieb sie erneut: groß, schlank, zwischen 25 und 30 Jahren und Deutsche, keine Südländer.
Im Gerichtssaal verwies wieder einmal ein Betroffener auf eine Spur nach rechts, die nie verfolgt wurde. Nur wenige Minuten entfernt vom Gemüsegeschäft an der Schützenstraße, wo Süleyman Ta?köprü niedergeschossen wurde, war Ali Ta?köprü den Männern begegnet: Waren es Mundlos und Böhnhardt? 2016 ist nur eins sicher: An der Elbe will der SPD-regierte Senat keinen Untersuchungsausschuss – und nur »Die Linke« machte in der Bürgerschaft Druck dafür. Der Senat hatte am 29. April 2014 einen 87 Seiten langen Bericht zur NSU-Mordserie vorgelegt, mit dem für ihn alle Fragen beantwortet scheinen. Die NebenklagevertreterIn­nen der Familie sehen indes bis heute Fragen offen: »Wir fordern eine umfassende Aufklärung, eine Befassung lediglich durch den Kontrollausschuss ist unzureichend«, sagte Gül Pinar, denn auch die Versäumnisse und Fehler der Hamburger Behörden seien nicht aufgeklärt. Auch der Umgang der Behörden mit der Aussage des Zeugen Ali S. im April 2006 hätte neu geprüft werden können. »Was soll ein Auftragskiller bei einem Schneider, Kioskbesitzer, Internetcafé- und Döner-Imbiss-Betreiber?«, fragte er und warf ein: Vielleicht sei es ein Rassist, ein Nazi, der Türken und Ausländer hasse, gewesen? Die Ermittler notierten: »Keine Aussage von Substanz zum Motiv«. Sie sprachen in den Akten gar selbst von dem Opfer als »Schmarotzer«.
Doch auch mögliche Verbindungen und Verstrickungen Hamburger Neonazis sind für Pinar nicht aufgearbeitet. Ein gefundener Papierschnipsel vom BKA in der ehemaligen Wohnung der NSU-Zelle mit Namen von rechten Organisationen wie dem »Deutschen Rechtsbüro« und Zeitungen wie der »Nordischen Zeitung« legt nahe, dass der NSU nicht bloß dem Neonazi-Heft »Der Weisse Wolf« Spendengeld gesendet haben könnte. Das »Rechtsbüro« und die »Nordische Zeitung« waren eng mit dem 2009 verstorbenen Neonazi-Anwalt Jürgen Rieger aus Hamburg-Blankenese verwoben.
2014 setzte der Bezirk Altona am Todestag des dritten NSU-Opfers ein Zeichen. In Gedenken an Ta?köprü wurde eine Straße nach ihm benannt. Nein, nicht dort wo er in seinem Laden ermordet wurde. Die BewohnerInnen der modernen Backsteinbauten sammelten Unterschriften dagegen und auch die Traditionsfirma Kühne wehrte sich. Der nördliche Teil der Kohlentwiete durfte umbenannt werden.

Hessen: Zum Stand der Aufklärung
von Sarah Müller (NSU-Watch Hessen)
In Hessen wurde 2014 ein Untersuchungsausschuss im Landtag eingesetzt, um Hintergründe des Mordes an Halit Yozgat, der am 6. April 2006 in seinem Internetcafe in Kassel getötet wurde, zu klären. Eine zentrale offene Frage ist die Anwesenheit des hessischen Verfassungsschutzbeamten Andreas Temme, der zur Tatzeit am Tatort war und am selben Tag zweimal mit Benjamin Gärtner, einem V-Mann aus der rechten Szene, telefonierte. Zudem fragt der UA nach möglichen NSU-UnterstützerInnen in Kassel sowie Beziehungen zwischen der nordhessischen und der Dortmunder Szene. Der kurze zeitliche Abstand von nur zwei Tagen zwischen dem Mord an Mehmet Kuba??k und dem an Yozgat und die enge Vernetzung von Dortmunder und Kasseler Neonazis, etwa durch die Neonaziband »Oidoxie« und deren UnterstützerInnengruppe »Oidoxie Street Fighting Crew«, werfen die Frage nach UnterstützerInnen des NSU vor Ort auf.
Bisher war die Befragung der ZeugInnen aus Kreisen der ErmittlerInnen, StaatsanwältInnen und VerfassungsschutzmitarbeiterInnen häufig von parteitaktischem Kalkül geprägt. Die Frage, ob der damalige Innenminister und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) die Ermittlungen 2006 behindert hatte, verhindert eine gemeinsame kritische Ausschuss­arbeit. Auf Seiten der Regierungsparteien offenbart sich immer wieder Voreingenommenheit gegenüber dem UA. Beispielsweise erklärte der UA-Vorsitzende Hartmut Honka (CDU), Temme sei »zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen«. Diese eigentlich noch ungeklärte Frage scheint für Honka beantwortet zu sein. Damit teilt er, im Gegensatz zu anderen UA-Mitgliedern, die Ansicht des Münchner Gerichts, dass Temme glaubwürdig sei. Manch befragter Polizist äußerte sich über Temme und den Verfassungsschutz kritischer als einige VertreterInnen der Regierungsparteien.
Besonders deutlich wurden die Schwächen des Ausschusses während der Befragung von vermeintlich ehemaligen Neonazis im Frühjahr 2016. Im UA konnten sich einige als AussteigerInnen präsentieren, obwohl Zweifel an diesen Inszenierungen bestehen. Widersprüche in ihren Aussagen wurden nicht hinterfragt, kritische Nachfragen blieben aus. Die Entscheidung des UA, Neonazis zu befragen, steht in Kontrast zu einer kaum vorhandenen Betroffenenperspektive. Während Neonazis sich als AussteigerInnen präsentieren konnten, mangelt es dem UA an Stimmen, die auf die rassistischen Ermittlungen aufmerksam machen oder bei Befragungen entsprechender ZeugInnen nachhaken.
Die große Enthüllung, der den Grund für Temmes Anwesenheit am Tatort und mögliche Verbindungen des NSU nach Hessen aufdeckt, ist nicht in Sicht. Trotz aller Kritik bietet der Ausschuss Einblicke in die hessische Neonazi-Szene, in ihre Vernetzung sowie in die Arbeit der hessischen Behörden. Insbesondere das »Landesamt für Verfassungsschutz« erscheint als eine vollkommen verselbstständigte Behörde, die sich jeglicher Kontrolle zu entziehen versucht.

Mecklenburg-Vorpommern
von »Mord verjährt nicht!« (Rostock)
»Viele Indizien weisen darauf hin, wie eng (…) die NSU-Terroristen mit Kameraden im Nordosten vernetzt waren«, schrieb der Journalist Patrick Gensing 2015 in der »taz«. Der Verfassungsschutz von Mecklenburg-Vorpommern sieht das ganz anders: »Für die Ermittlungsbehörden haben sich (…) bislang keine Ansätze (…) ergeben, so dass derartige Aussagen journalistisch geprägte Spekulationen bleiben.« Ist das wirklich so? Rostock ist die einzige ostdeutsche Großstadt, in der die Neonazis des NSU mordeten. Am 25. Februar 2004 erschossen sie im Stadtteil Toitenwinkel Mehmet Turgut, der in einem Imbissstand arbeitete. In Stralsund sollen zudem zwei Banküberfälle auf ihr Konto gehen. Sind diese Taten ohne Vernetzung mit lokalen Neonazi-Strukturen denkbar? Hat der Verfassungsschutz einfach nur nichts gewusst, aber keine konkreten Fehler gemacht? Waren die Ermittlungen der Polizei nach dem Mord nicht von rassistischen Vorurteilen geprägt?
Der Imbissstand, in dem Turgut ermordet wurde, lag sehr abgelegen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er ohne Hilfe von außen und zufällig ausgewählt wurde, ist gering. Es gibt Fotos, die Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos Mitte der 1990er Jahre auf einer Feier in der Rostocker Innenstadt zeigen. Auf der Telefonliste, die in den Trümmern der NSU-Wohnung in Zwickau gefunden wurde, ist eine Telefonnummer aus Rostock vermerkt. Es gibt das Fanzine »Der Weisse Wolf«, in dem 2002 der NSU namentlich gegrüßt und sich für eine Geldspende bedankt wurde. Verantwortlich war der spätere NPD-Abgeordnete im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern David Petereit. Gab es also wirklich keine Verbindungen des NSU in den Nordosten?
In den Bundesländern, die mit einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss auf die Morde reagierten, sind Verwicklungen des Verfassungsschutzes und Ermittlungsfehler der Polizei bekannt geworden. In Mecklenburg-Vorpommern haben die Behörden nach Ansicht des CDU-geführten Innenministeriums dagegen alles richtig gemacht. Das ist kaum vorstellbar. Doch ein Untersuchungsausschuss scheiterte 2013 an »Die Grünen«, die nach einer Sitzung der geheim tagenden »Parlamentarischen Kontrollkommission« von ihrer Forderung nach einem solchen Abstand nahmen.
Nach der Landtagswahl am 4. September 2016 soll ein neuer Anlauf gewagt werden. Diesmal scheint zwischen SPD, »Die Grünen« und »Die Linke« Einigkeit zu bestehen. Was aus den Forderungen wird, muss sich zeigen. Fortschritte macht hingegen die Gedenkpolitik. Nachdem seit 2011 linke und migrantische Verbände das Gedenken an Mehmet Turgut organisierten und mit inhaltlichen Veranstaltungen begleiteten, gelang es 2016, eine gemeinsame Gedenkveranstaltung mit der Stadt Rostock durchzuführen – es war eine Forderungen der Hinterbliebenen, dass Mehmet Turguts auch von offizieller Seite gedacht wird.

Dortmund, 4. April 2016 Der von den NSU-Terroristen begangene Mord an dem Dortmunder Mehmet Kuba?ik jährt sich zum zehnten Mal. Mit der Familie Kuba?ik versammeln sich rund 500 Menschen an der Gedenkstätte vor dem ehemaligen Kiosk der Familie und ziehen später zur Gedenkstätte für die zehn NSU-Opfer nahe des Hauptbahnhofs vor dem ehemaligen Gestapo-Gefängnis Steinwache.

Nordrhein-Westfalen: Zentrale Fragen bleiben offen
von Kim Müller
Einen Mord in Dortmund und zwei Sprengstoffanschläge in Köln verübte der NSU in Nordrhein-Westfalen. Das Bundesland verfügt über eine militante Neonazi-Szene, ihr konnten jedoch bisher keine direkten Kontakte zu Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe nachgewiesen werden. Aus diesem Grund blieben zwei zentrale Fragen des nordrhein-westfälischen Untersuchungsausschusses bis heute ungeklärt: Nach welchen Kriterien hat der NSU seine Opfer hier ausgewählt und hatte er UnterstützerInnen vor Ort?
Gerade bei dem Sprengstoffanschlag auf den Kiosk einer iranischen Familie in der Kölner Probsteigasse drängt sich diese Frage auf, zumal das Phantombild des Täters, der die Bombe im Dezember 2000 im Geschäft ablegte, wenig Ähnlichkeit mit Mundlos oder Böhnhardt aufweist. Bei einer Lichtbildvorlage nach 2011 identifizierten zwei AugenzeugInnen keinen der beiden zweifelsfrei als den Täter. Für Unruhe sorgte in diesem Zusammenhang die Erkenntnis, dass die Generalbundesanwaltschaft im Februar 2012 die mögliche Tatbeteiligung eines langjährigen V-Mannes des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes geprüft hatte – ohne weitere Schritte einzuleiten. Zu einem endgültigen Ergebnis kam der Ausschuss, der noch bis spätestens Mai 2017 läuft, in dieser Sache bislang nicht.
Ungeklärt ist auch, ob es nur Zufall war, dass der NSU die Morde in Dortmund und Kassel mit nur zwei Tagen Abstand verübte und zur gleichen Zeit die Dortmunder RechtsRock-Szene enge Kontakte nach Kassel pflegte. Hinweise darauf, dass Böhnhardt und Mundlos kurze Zeit vor den Morden an einem RechtsRock-Konzert in Kassel teilgenommen hatten, erhärteten sich jedoch nicht. Deutlich wurde allerdings, dass es Anfang der 2000er Jahre eine äußerst militante und terroraffine Szene in Dortmund gegeben hat, die sich an Konzepten von »Combat 18« orientierte und die »Turner Tagebücher« las. Mittendrin: Sebastian Seemann, ehemaliger V-Mann des Verfassungsschutzes von Nordrhein-Westfalen.
An der Blockadehaltung des »Bundesamtes für Verfassungsschutz« (BfV) biss sich der Ausschuss die Zähne aus, als er die Todesumstände von Thomas Richter untersuchen wollte. Das Amt verweigerte Akten und ZeugInnen zu dem ehemaligen V-Mann »Corelli«, der im April 2014 bei Paderborn an einem Zuckerschock verstorben war. Eine überraschende Erkenntnis kam dann von anderer Seite: Ein medizinischer Gutachter räumte ein, dass als Todesursache nicht nur ein unerkannter Diabetes, sondern auch das Rattengift Vacoor in Frage käme. Die Paderborner Staatsanwaltschaft nahm daraufhin das Todesermittlungsverfahren wieder auf und gab ein neues Gutachten in Auftrag.

Sachsen: Vom Bohren dicker Bretter
von Kerstin Köditz
»Neonazistische Terrornetzwerke in Sachsen« heißt der zweite Untersuchungsausschuss in dem Bundesland, das für über ein Jahrzehnt der Rückzugsraum für das Kerntrio des NSU war. »Blood & Honour«, die »Hammerskins« und ähnlich ausgerichtete Gruppen stehen nun damit im Fokus. Mit dieser Erweiterung des Untersuchungsauftrags hat man sich viel vorgenommen, denn dem Aufklärungswunsch der einsetzenden Fraktionen »Die Linke« und »Die Grünen« steht nicht der entsprechende Aufklärungswille der Regierungskoalitionen zur Seite. Im Gegenteil. Ganze acht bis neun Sitzungen pro Jahr finden statt, Sondersitzungen oder gar eine Blockwoche, wie in der letzten Legislaturperiode, werden bisher von der Mehrheit des Ausschusses strikt verweigert. Im Zeitraum zwischen 10 und 16 Uhr werden jeweils zwei ZeugInnen vernommen. Mehr nicht. Es gilt also dicke Bretter zu bohren, wenn man der Aufklärung bis zum Ende der Legislaturperiode tatsächlich ein Stück näher kommen will. Keinen Beitrag dazu hat bisher die Fraktion der »Alternative für Deutschland« geleistet, die nun auch in dem Gremium vertreten ist. Immerhin ist es den ParlamentarierInnen bisher schon gelungen, einige der im Umlauf befindlichen Verschwörungsmythen zu entkräften. So kann nach entsprechenden Vernehmungen nun nicht mehr einfach behauptet werden, etliche der im Brandschutt gefundenen Asservate seien nachträglich dort verbuddelt worden. So hat die Fraktion der »Die Linke« jenen Polizisten ausfindig gemacht, der die ?eská – die Mordwaffe also – gefunden hatte. Intensiv vernommen wurde zum Beispiel der Hausmeister, der laut Polizeiangaben die Telefonnummer Zschäpes besessen haben soll, dies in der Vernehmung jedoch vehement bestritt. Zu den für die kommenden Sitzungen geladenen ZeugInnen gehören unter anderem Zwickaus Oberbürgermeisterin Pia Findeiß sowie der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) Heinz Fromm und sein Nachfolger Hans-Georg Maaßen. In allen drei Fällen wird wahrscheinlich der Spitzel des BfV Ralf Marschner eine besondere Rolle spielen. Bisher waren die Plätze für BesucherInnen und die Presse weitgehend leer, das Medienecho blieb schwach. Vielleicht ändert sich dies, wenn die Prominenz auf der ZeugInnenbank sitzt.

Sachsen-Anhalt: keine weiteren Fragen?
von Arnd Graf
Dafür, dass der NSU Verbindungen nach Sachsen-Anhalt hatte, gibt es Hinweise. Doch viele Fragen fanden keine Antwort oder wurden nie gestellt.
Thomas Richter (V-Mann »Corelli«) war eine Top-Quelle des Verfassungsschutzes in der Neonazi-Szene. Als er im Zuge des NSU-Skandals aufflog, gab es auch in Sachsen-Anhalt Fragen. Schließlich war Richter hier eine der Schlüsselfiguren der Szene, der mit seinen Internet-Projekten (»Nationaler Beobachter«, »Nationale gegen Kinderschänder«, …) ein früher Pionier der Nutzung des Internets durch die Szene war. Doch allzu sehr forschte man Richter nicht nach. Da er seit den frühen 1990er Jahren V-Mann des Bundesamtes und nicht des Landesamtes war, gab es scheinbar in Sachsen-Anhalt keine Veranlassung für Nachfragen, obwohl er zuvor für die Schlapphüte des Bundeslandes tätig war. Unmittelbar nach Richters Enttarnung trat der damalige Chef des hiesigen Verfassungsschutzes, Volker Limburg, zurück – aus heutiger Sicht wegen einer Lappalie. Auf Nachfrage des Kontrollgremiums des Landtages konnten die Akten aus der Zeit, in der »Corelli« für den Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt gearbeitet hatte, nicht vollständig beigebracht werden. »Die Linke« und »Die Grünen« verlangten Aufklärung. Doch als diese ausblieb, war dies dennoch kein Anlass, das Thema weiter zu verfolgen. Einen parlamentarischen NSU-Untersuchungsausschuss gab es in Sachsen-Anhalt nicht, obwohl es ungeklärte Fragen gibt. So fuhr Beate Zschäpe in den Tagen ihrer Irrfahrt durch Deutschland im November 2011, nachdem sie die Wohnung des NSU in Zwickau in Brand gesetzt hatte, auch nach Halle (Saale), wo sie auch zuvor wiederholt gewesen war. Warum? Traf sie vielleicht Thomas Richter? Eine von Richters Handynummern jedenfalls fand sich im Fundus des NSU. Zschäpe soll außerdem in Halle in zahnärztlicher Behandlung gewesen. Warum dort? Und die Einnahmen eines neonazistischen Konzerts in Lützen in Sachsen-Anhalt sollen an den NSU gegangen sein. Auch hier gibt es offene Fragen.
Echte Räuberpistolen des Verfassungsschutzes aus den wilden 1990er Jahren, wie es sie in Thüringen gab, sind aus Sachsen-Anhalt nicht bekannt. Auch blieben spektakuläre Enttarnungen von Spitzeln aus. Klar ist nur, dass der Geheimdienst anlässlich schwerer neonazistischer Gewalttaten in den 1990er Jahren keine gute Figur machte. So musste der damalige Verfassungsschutz-Chef Wolfgang Heidelberg zurücktreten, nachdem bekannt geworden war, dass sein Dienst von der rassistischen Hetzjagd auf Migranten am Himmelfahrtstag 1994 vorab gewusst, die Polizei aber nicht informiert hatte.
Ebenso wie Mecklenburg-Vorpommern und bis vor kurzem Brandenburg steht Sachsen-Anhalt für FachjournalistInnen, Antifa und Politik bei der Aufarbeitung der Spuren des NSU im Schatten von Sachsen und Thüringen. Eine Reportage des MDR über Thomas Richter fasste immerhin verdienstvoll seine Rolle in der Neonazi-Szene zusammen. Doch weitere Recherchen blieben aus.

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Thüringen: Aufklärung fortsetzen
von Katharina König
In Thüringen wurde der erste NSU-UA »Rechtsterrorismus und Behördenhandeln« im Februar 2012 eingesetzt. Die ersten Sitzungen konzentrierten sich auf die 1990er Jahre und die Verfestigung der rechten Szene in Thüringen. Bereits die Anhörung der Sachverständigen, unter denen sich auch Aktive der damaligen antifaschistischen Szene befanden, deutete die Verwicklungen und Unterstützung durch Sicherheitsbehörden, wie dem »Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz« (TLfV), für die extreme Rechte an.
Aufgrund der mutmaßlich kompletten Übergabe der Akten des TLfV sowie weiteren Lieferungen aus Justiz- und Sicherheitsbehörden zum »Phänomenbereich rechts« standen bereits 2012 umfängliche und ungeschwärzte Akten zur Verfügung. 11.681 Akten wurden dem UA übergeben. Die Akteneinsicht, das konsequente Befragen von ZeugInnen quer durch die Sicherheits- und Justizbehörden sowie das kontinuierliche Thematisieren von Neonazi-Strukturen führte zu detaillierten Erkenntnissen zur Entstehung des »Thüringer Heimatschutzes«, dem politischen Sozialisationsfeld des späteren NSU. Der UA arbeitete in 68 Sitzungen die Verantwortungslosigkeit damaliger Verantwortungsträger, Aktivitäten von Verfassungsschutzbehörden im Zusammenhang mit V-Leuten und Neonazi-Strukturen, sowie das systemische Fehlverhalten von Polizei und Staatsanwaltschaften heraus. In dem 2014 veröffentlichten Abschlussbericht heißt es: »Die Häufung falscher oder nicht getroffener Entscheidungen und die Nichtbeachtung einfacher Standards lassen aber auch den Verdacht gezielter Sabotage und des bewussten Hintertreibens eines Auffindens der Flüchtigen zu.«
Im April 2015 fand dann die erste Sitzung des zweiten Thüringer NSU-UA statt. Seit mehr als einem Jahr beschäftigt sich der Ausschuss nun mit den Abläufen und offenen Fragen des 4. November 2011, als sich in Eisenach der NSU selbst enttarnte, und den Folgemaßnahmen der Behörden. Polizeibeamte, Rettungskräfte, Feuerwehr, AnwohnerInnen, Obduzenten und Pathologin sowie JournalistInnen wurden als ZeugInnen gehört. Die Abläufe des 4. November sind so mittlerweile weitestgehend geklärt.
Die nächsten Schwerpunktaufgaben des UA, der spätestens zum Ende der Legislatur im Sommer 2019 beendet sein muss, sind im Untersuchungsauftrag formuliert: Aufklärung über das UnterstützerInnen-Netzwerk des NSU, die mögliche Kenntnis dieses Netzes durch Sicherheitsbehörden, mögliche Verbindungen des NSU zur Organisierten Kriminalität sowie der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter. Dies würde dem im ersten Abschlussbericht formulierten Anspruch gerecht: »Wir setzen uns dafür ein, dass auch künftig im Freistaat Thüringen alle Anstrengungen unternommen werden, um die Verbrechen des NSU und die Tatbeiträge ihrer Unterstützer aufzuklären, und dass diese Aufklärung nicht vor der Verantwortung von Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden halt macht.«

»»» Gesammelte Texte zum NSU-Komplex »Nationalsozialistischer Untergrund« aus vielen Ausgaben vom antifaschistischen @derrechterand Magazin